Allergattig Lütt &endash; allergattig Gedicht

Von Hubert Schaller

Die Fotografien von Romano P. Riedo und der Begriff Heimat im Werk der Mundartdichter Meinrad und Marcel Schaller.

Wer wollte es noch bestreiten, was die Bilder von Romano P. Riedo endlich schwarz auf weiss belegen: Es gibt ihn nicht, den Deutschfreiburger, die Deutschfreiburgerin. Es gibt bei uns &endash; laut sei's verkündet &endash; nur allergattig Lütt. Da sind sie endlich versammelt zwischen zwei Buchdeckeln oder an den Wänden eines Gebäudes, das nichts Geringeres als Wissen und Weisheit speichert: Da sind sie also und schauen uns entgegen aus ihren je eigenen Gesichtern: Alte und Junge, Dünne und Beleibte, Arme und Reiche, Gebildete und Büezer, Lebenshungrige und vom Leben Gezeichnete. Menschen mit ihren eigenen Gesichtern, ihrer eigenen Art, ihrer eigenen Geschichte. Zuerst einmal und schlussendlich stehen sie für nichts und niemanden als für sich selbst. Aber wie so oft ist das Gegenteil, der Gegen-Satz nicht weniger wahr. Mögen die porträtierten Menschen noch so unterschiedlich sein, da gibt es halt doch dieses gemeinsame Band, das vorgibt zu verbinden, was sich dem Auge des Betrachters als je Einzelnes und Einziges darbietet. Alle diese Menschen bewohnen den gleichen geografischen Raum, leben zur gleichen Zeit, benützen die gleiche Sprache (wenn auch nicht den gleichen Dialekt). Wäre der Begriff historisch und politisch nicht entwertet worden, so dürfte man dieses gemeinsame Band Heimat nennen. Kaum habe ich dieses Wort ausgesprochen und schon sind sie wieder platt gewalzt, diese groben und feinen Unterschiede, schon haben wir ihn wieder verraten, diesen einsamen, grossartigen Einzelgänger. Was doch gerade seine Einzigartigkeit bewies, wird gerade noch geduldet als individuelle Ausprägung einer Einheitsnorm. Hätte Heimat nicht diese Verfügungsgewalt, müsste man sie nicht gleichsetzen mit einer Zwangsgemeinschaft, man könnte sie schon fast wieder lieb gewinnen.

In einer Zeit, in der die Menschen als globalisierte Konsumenten auf dem globalen Markt immer anonymer und ununterscheidbarer werden, könnte Heimat als Korrektiv beinahe revolutionäre Züge annehmen. Nicht als Ort der Gleichschaltung, sondern, im Gegenteil, als ein Ort, wo der Mensch als Individuum zugelassen wird, wo es Platz hat für allergattig Lüt.

Wenn ich den Fotoband von Romano P. Riedo so betrachte, dann wird die Nostalgie, die jedem Bild als Keim innewohnt, zu einer Erzählung über das, was einst gewesen sein wird, was wir verloren haben werden, weil wir nicht gewusst haben, dass wir es besitzen: das Gefühl zusammenzugehören, ohne gleich sein zu müssen.

Mein Vater, der bekanntlich schrieb, und mein Onkel, der &endash; weniger bekanntlich &endash; auch schrieb, hatten einen Heimatbegriff, dem ich mich in jungen Jahren instinktiv widersetzte. Er kam mir abgedroschen, verherrlichend, spiessig vor. Ich konnte ihre Gedichte erst wieder lesen, als ich älter wurde. Und siehe da, in die immer noch biedere Heimatmelodie mischte sich jetzt ein Grundton, den ich bisher überhört hatte und der mir plötzlich vertraut vorkam. Vielleicht sollte ich gar nicht versuchen, ihn zu beschreiben. Aber er muss etwas mit einer alten, beständigen, uneinlösbaren Sehnsucht zu tun haben. Einer Sehnsucht, die den Kindern überall auf der Welt an der Wiege und den alten Menschen überall auf der Welt am Grabe gesungen wird. Sie tönt in allen unterschiedlichen Sprachen gleich. Sogar in meinen eigenen Mudartgedichten, mit denen ich mich doch absetzen, mich widersetzen wollte, war er plötzlich da, dieser leise, melancholische Ton, ungefragt hatte er sich eingeschlichen und ohne meine Erlaubnis verselbstständigt. Plötzlich nahm ich in den Gedichten meines Vaters, die den meinen doch so unähnlich sind, etwas wahr, was sie den meinen ähnlich machte, eine Art poetisches Spurenelement. Die Sprache, die Mundart ist uns beiden zur Heimat geworden, ob als Ärgernis oder als Gnade, beides sei für beide zugelassen. Plötzlich sehe ich zu meinem Erstaunen ein: Auch wer sich widersetzt, setzt auf das, was noch nicht eingelöst ist und vielleicht nie eingelöst werden wird. Auch wer sich auf die Idylle verlegt, legt sich, vielleicht ohne es zu wissen, zu einer Realität quer, die von Philistern oder Managern definiert und verwaltet wird. Ob wir die Welt verzaubern oder sie in ihrem falschen Zauber entlarven, vielleicht entstammt beides der gleichen Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Wer wollte das Wort Heimat überhören, das darin mitschwingt.

Was Romano P. Riedo mit der Kamera versucht hat, haben Schriftsteller mit Worten versucht: Bilder einzufangen von je unterschiedlichen Menschen in je unterschiedlichen Lebenssituationen. Beide sind auf allergattig Lütt gestossen, beide haben etwas von dem Reichtum, von der Vielfalt an Menschen und Lebensmöglichkeiten eingefangen, die es in unserer Region gibt. Aber so wie ich in allen Bildern immer das Bild suche, so suche ich in allen Gedichten immer das Gedicht. Dieses eine Bild, dieses eine Gedicht, diesen einen Menschen. Er, er ist immer nur gemeint, wenn wir auf unterschiedliche Menschen zeigen. Er, von dem wir niemals sprechen und der doch immer in allen anwesend ist. Und plötzlich kommt es mir so vor, als ob alle Aufnahmen von Romano P. Riedo aus dem immer gleichen Negativ hervorgegangen wären. Nur wenn wir dieses Negativ belichten &endash; sei es tatsächlich oder im übertragenen Sinn mit Worten &endash; wird so Unterschiedliches und Vielfältiges daraus. In der Dunkelkammer sind wir alle eins.

So lade ich Sie, nach der fotografischen Spurensuche, zu einer literarischen Spurensuche ein.

Es geht, wie im Fotoband von Romano P. Riedo, um Menschen aus der Region. Menschen, wie sie mein Vater oder mein Onkel in früherer Zeit wahrgenommen haben und wie ich sie heute wahrnehme &endash; allergattig Lütt. Es geht dabei auch um die Suche nach etwas anderem. Um die Suche nach jenem Negativ in uns, das sich dem Zahn der Zeit widersetzt, das unretuschierbar ist, das uns, zählebig wie nur etwas, in allen Bildern, in allen alten und neuen Gedichten aus der Dunkelkammer heraus anspricht. Ich schlage vor, dass wir es &endash; allen drohenden Missverständnissen zum Trotz - Heimat nennen.

© Hubert Schaller , Januar 2005

Der vorliegende Text wurde vom Autor Hubert Schaller einer Dichterlesung im Rahmen der Fotoausstellung "Allergattig Lütt" am 18.1. 2005 in der Rotunde der Kantons- und Universitätsbibliothek vorangestellt. Thema dieser Abendveranstaltung war das zeitlose Phänomen Heimat, gesehen durch die Brille der drei verwandten und zwei Generationen umfassenden Mundartdichter Meinrad, Marcel und Hubert Schaller.

zurück / retour / back 2 main